Astronauten haben es schwer – weil sie im All so leicht sind. Um dem Muskelschwund in der Schwerelosigkeit vorzubeugen, wurden spezielle EMS-Anzüge (Elektro-Muskel-Stimulation) entwickelt. Esther Jakobs hat nach ihrer Ausbildung als Maßschneiderin an Prototypen für diese EMS-Anzüge gearbeitet – und machte sich dann 2022 mit ihrem Atelier »PrioNessy« mit Brautmoden und Abendgarderobe selbstständig.
Esther, statt Hightech-Trainingsoutfits für die ISS nun Brautkleider für Standesamt oder Traualtar – das ist eine überraschende Wendung …
Für mich eigentlich nicht. Bei den EMS-Anzügen kam es darauf an, Funktionalität mit Design und Styling zu verbinden. Beim Hochzeitskleid ist es nicht so anders: Es hat eine Funktion, nämlich die Braut einfach himmlisch aussehen zu lassen, und dies gelingt ebenfalls über Design und Styling. Natürlich sind die Bereiche sehr unterschiedlich, aber bei beiden ist Kreativität gefordert, Einfühlungsvermögen in die Wünsche der Trägerin oder des Trägers, schnitttechnische Berücksichtigung von Besonderheiten. Eigentlich war es für mich keine sehr große Umstellung. Dazu kommt, dass man als Maßschneider*in kaum Ressourcen hat, sich mit Hightech-Bekleidung einen eigenen Betrieb aufzubauen. Mit Anlasskleidung schon …
Brautmode: Das ist doch dieses besondere eine Kleid für diesen einen besonderen Tag. Also so etwas wie Wegwerfmode auf hohem Niveau?
Nein, es ist mir wichtig, zu betonen, dass ein Brautkleid kein Kleidungsstück für nur einen Tag sein muss. Es widerstrebt mir, ein Kleid für einen einzigen Anlass zu schneidern, um es dann im Schrank verstauben zu lassen. Das empfinde ich als Verschwendung – von Kreativität, Arbeit, Ressourcen.
Beim Entwurf eines Hochzeitskleides zusammen mit der Kundin habe ich nicht nur den »großen Tag« im Blick, sondern auch, wie bereits bei der Planung des Modells eine spätere Verwendung quasi mitgedacht werden kann. Denn die Alternativen, ein Brautkleid nach der Hochzeit weiterhin zu nutzen, sind mannigfaltig. Man kann es einfärben, kürzen, es in Rock und Jacke teilen oder komplett umarbeiten. So entsteht, je nach Vorstellungen und den Möglichkeiten, die das Ausgangsmodell bietet, etwas Neues: vom Sommerkleid bis zur festlichen Garderobe.
Sind die Bräute in spe, die einer romantischen Hochzeit in ihrem Traumkleid entgegenfiebern, ansprechbar auf diese doch eher praktischen Vorschläge?
Das sind sie allerdings: Brautmode nicht nur für einen Tag – das ist mittlerweile so etwas wie mein Markenzeichen. Die Kund*innen, die mich aktuell besuchen, haben sich oft schon Gedanken dazu gemacht. Sie kommen mit einer bestimmten Idee in mein Atelier und diese wird dann zusammen weiter ausgesponnen. Das muss nicht zwingend zu Ende gedacht sein, aber wir haben schon einen Grundstein für das »Danach« gelegt. Bis jetzt sind diese Kund*innen zu hundert Prozent wiedergekommen, um das Hochzeitskleid entsprechend ihren Vorstellungen umarbeiten zu lassen.
Umarbeitungen gehören nicht unbedingt zu den Lieblingsaufgaben im Schneideratelier. Ist das bei Brautmoden anders?
Als Maßschneider*innen machen wir natürlich am liebsten Neuanfertigungen. Wenn wir aber in der Schneiderei den Gedanken der Nachhaltigkeit nicht nur als Label verwenden, sondern aktiv umsetzen wollen, dann gehören für mich Anpassungen, Umarbeitungen und Reparaturen unbedingt auch zu unserem Handwerk. Wenn wir glaubwürdig vermitteln wollen, wie wichtig es ist, den Wert unserer Arbeit zu achten und nicht gedankenlos Textil zu konsumieren, dann können wir dies unter anderem tun, indem wir den Lebenszyklus von erhaltenswerter Kleidung verlängern – auch wenn sie ursprünglich nicht aus unserer Werkstatt kommt.
Braucht die Welt Maßschneider?
Unbedingt! Dies nicht nur unter dem Aspekt der Herstellung nachhaltiger Kleidung, sondern – für mich ebenso wesentlich – weil wir uns über Kleidung ausdrücken, weil wir über sie signalisieren, wie wir gesehen werden möchten, weil wir auch auf diese Art mit unserem Umfeld kommunizieren und mit anderen in Beziehung treten. Bekleidungspsychologie ist in unserem Leben ein ungeheuer wichtiger Faktor. Nicht jede oder jeder ist allerdings in der Lage oder hat das nötige Selbstbewusstsein, sein Selbstbild über Kleidung so zu vermitteln, dass es auch authentisch wahrgenommen wird.
Hier kommen wir Maßschneider*innen ins Spiel: Wir sind so etwas wie »Übersetzer«, die das, was die Kundin oder der Kunde über sich selbst sagen möchte, in Kleidung, in einen persönlichen Stil übertragen und so diese Botschaft nach außen transportieren. Vielleicht kann die Welt auf Maßschneider verzichten, doch solange Individualität und Persönlichkeit als kulturelle Werte Bestand haben, können wir es nicht.
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